Klappenfetisch \\
Der Ärmellose kam und ging. Nur kurz beehre er seine Gastschaft mit seiner knappen Anwesenheit. Die wartenden Eiferer hatten ihre Bewunderung ihm gegenüber zwar geäußert, jedoch schien noch viel Lobpreis auf ihnen zu lasten. Aber es war zu spät. Der Drang nach Ausdruck ihrer verbindlichen Wertschätzungen war nicht mehr möglich. Die Stimmung konnte nun endlich kippen. Einer der Aufseher des Tempelmanagements, welcher auch für Versorgungsfragen zuständig war, beorderte einige wenige Leibeigene zum Ausschank verdorbener Säfte. Die extrem zähe Flüssigkeit roch nach fauler Seife aus Altöl und halluzinogenen Pilzen, deren Verfallsdatum im vorherigen Jahrhundert bereits abgelaufen war. Und doch bewegten sich die Mitglieder träge den gebrauchten Pappbechern entgegen, die ihnen monoton gereicht wurden, um ihren Trunk sogleich artig in Empfang zu nehmen und ihn in Kehlen hinunterzuspülen. Die Pforte, durch die der Ohnärmelige leise verschwunden war, kam wieder ins allgemeine Gesicht der Observanz. Mehrere Inspektoren funkten „Entwarnung“ in versteckte Mikrofone, die sie in ihren Hemdzipfeln verborgen hielten. In Ermangelung von Alternativen war die trostlose Gemeinde dazu übergegangen, stupide Kreise in der Räumlichkeit zu drehen und ekelhaft atonale Mantras zu rezitieren. Viele Augen des so gebildeten rotierenden Menschenzirkels waren aber nicht in tiefer Kontemplation versunken, nein, sie stierten immer wieder zu den unterschiedlich bemalten Klappen, mit denen die Fenster beschichtet waren, und zu jener Tür, durch welche der Entärmelte so flott entschwunden war. Die Hoffnung, sein Antlitz noch ein einziges Mal, wenn auch nur flüchtig, in Betracht zu nehmen, lag nicht nur in der Luft, sie war eklatant spürbar. Zum Glück aller übertrugen winzige versteckt angebrachte Kameras das Verhalten der in etwa zweihundertfünfzig Gläubigen auf die Monitore der Überwachungseinheit, welche sich ein gemütliches Büro in einem der drei Panikräume eingerichtet hatte. Es gab einen Kaffeevollautomaten für aktuell Diensthabende und Kabelfernsehen zur Zerstreuung der Nichtschichtler, die in Erholungsphasen zu verweilen hatten. An einer Wand waren Notfallpläne und Protokollanweisungen auf ein Pinboard angeheftet. Das Personal war ganz versunken in die Auswertung der Wärmebilder, da es hitzige Anzeichen zu geben schien, dass einige Mitglieder der Kultveranstaltung zu emotionaler Inkontinenz tendieren könnten. Es waren klare Farbmarkierungen im bunten Temperaturraster der bewegten Masse zu sehen und ein Experte äußerte seine Besorgnis darüber, dass es seiner Meinung nach klare Hinweise auf eine Vermehrung der negativen Ausstrahlungen der Gehirnaktivitäten gab. Niemand hier hatte Interesse, einem Kippelement beizuwohnen, aber die Lage müsste zuallererst eruiert und diskutiert werden, bevor sich die richtigen Schritte einleiten ließen. Zurück im Sakralbereich hatten die Teilnehmer damit begonnen, sich an den schwitzigen Händen zu greifen, und auch die witzigen ausgeschiedenen Phantasiewortreihen wurden mittlerweile lauter vorgetragen als noch vor wenigen Minuten. Es galt, lange auswendig gelernte Konstellationen von Weichlauten und komplizierte Kombinationen von Hartakzenten so zu vermengen, dass Gehirn und Geist stumpfgeschaltet wurden, um so – wie der Ärmelnichtige es ausgedrückt hatte – „die innere Schaltung und Waltung der gesamten Dinge und Möglichkeiten einem gewaltigen Zusammenbruch näher zu bringen“. Manch einer schrie die Phrasen schon förmlich heraus. Einige reckten dazu ihre Hälse hervor, wie bei einer Schlachtelektrisierung von Verzehrtier. Die Stimmung war teilweise schon Eskalation. Einem besonders energisch kulminierenden Exemplar, das unter genauster Beobachtung des Chefpsychologistikers stand, lief bereits der Kopf hochrot an und Körperwasser triefte aus allen Poren, Drüsen und Blasen. Im Kontrollzentrum bildete sich ein schlankes Gremium, um über die unangenehme Situation zu beratschlagen. Der Kommunikationsleiter wurde beauftragt, den Ärmellosen umgehend in Verständigung zu setzen. Nur er – so die trübe Hoffnung – könne durch seine Anwesenheit und seine sanfte einfühlsame Stimme auf die Protagonisten einwirken. Nur war dieser nicht zu erreichen. Alle Mittel des Aussendens von Nachrichten waren bereits ausgeschöpft und es wurde keinerlei Kontaktaufnahme bestätigt. Indes begannen nun mehrere Köpfe, in der Menge Blasenbildung und Auswuchs zu entwickeln. Zuerst begann es im inneren Kreis, aber die Peripherien wurden auch schnell in Mitleidenschaft gezogen. Sobald ein Fall von den anderen optisch aufgenommen wurde, kopierten diese die Symptome und stellten sie weiteren zur Schau, welche dann ihrerseits das Krankheitsbild übernahmen. Der nervöse Finger des Psychohygienikers zitterte schon auf dem Quarantäneknopf der Hauptkonsole im Sicherheitsbereich. Als der erste Kopf mit einem lauten Puff zerplatzte und einem Wärter sein Gehirn flüssig entgegen schleuderte, brach Angst aus. Die Versiegelung war nun unumgänglich und eine Kettenreaktion wohl leider unvermeidlich. Tatsächlich verpuffte nun ein Haupt nach dem anderen, erst in Minutenabständen, dann sekündlich. Sie blähten sich erst auf, die Augen kugelrund nach außen gedrückt, und dann, nach einer kurzen invertierten Rückformung, barsten sie. Einer und noch einer und noch einer, bis nur noch wenige zu sehen waren und dann keine mehr, außer die der paar Handlanger und Bediensteten, die in Blut, Gehirnmasse und Speichelschleim dort verharrten. Es galt nun, die Kultleitung in Mitwisserschaft zu ziehen und Modelle an Erklärungen aufzubereiten. Der Ohnärmelige würde außer sich sein, wenn er in Erfahrung bringen würde, dass eine ganze Sektion der Verendung anheimgefallen war. Es war nun unabdingbar, einen Allgemeinplan zur Verfügung zu bringen, der die auseinanderstrebenden Interessen in der Reinheit der unterschiedlichen Auffassungen des Geschehenen in Einklang bringen konnte. Das Meeting zur Evaluierung der Analyse war nach der Mittagspause angesetzt worden. Der Entärmelte, der zeitlich begrenzt Verborgenheit praktizierte, wurde nicht vor dem finalen Ablauf der Karenzzeit zurückerwartet. Einer der bewährtesten Entnahmespezialisten musste direkt zur Erstverprobung in das Sakrallabor eindringen, zum Zweck der Extraktion nötiger Beweiskulturen und zur Sicherung der ersten bakteriologischen Ursprungsformen.
Diese seltsame Kurzgeschichte entstand auf zwei Flügen am 9.6.2019/10.6.2019 (SU 2595 von München nach Moskau // SU 1962 von Moskau nach Astana). Sie wurde 2022 im Poesiemagazin »applaudissement« Ausgabe 25 veröffentlicht. Tausend Dank dafür an Bernhard Rusch!